Blog Chat: Erlebnisse und Erfahrungen bei der Scrum-Guide-Übersetzung

13.12.2020

von Sabine Canditt, Eva Gysling, Björn Jensen, Peter Schmidt (Teil des elfköpfigen Übersetzungsteams)

Sabine: Hallo, schön, dass Ihr heute wieder dabei seid…unser Sonntagnachmittag, den wir in den vergangenen Wochen immer unserer gemeinsamen Synchronisation und Planung hinsichtlich der Übersetzung des Scrum Guide 2020 ins Deutsche gewidmet haben. Und  damit hier nicht so eine Leere entsteht, jetzt, wo der Scrum Guide 2020 in Deutsch draußen ist, wollen wir doch mal schauen, wie es uns so geht.

Eine Frage, die mich interessiert, 1 Woche nach Fertigstellung der Übersetzung: Was ist euch aus unserer gemeinsamen Arbeit in Erinnerung geblieben?

Björn: Mir ist besonders positiv in Erinnerung geblieben, dass es möglich ist, in einer doch eher größeren Gruppe von Personen, die sich im Grunde nicht kennen, schnell Fahrt aufzunehmen, gemeinsam sich zu einigen, wie wir online miteinander arbeiten wollen und dann auch wirklich Dinge gewuppt zu kriegen. Dass das mit dem Einigen dann doch nicht immer so einfach ist, zeigten dann fachliche Diskussionen, wo wir manchmal vom Hölzchen zum Stöckchen kamen und die eine oder andere Runde mehrfach gedreht haben. Hier war es total gut, dass jemand Product Ownership übernommen hat und dann Entscheidungen getroffen hat. Danke hier dann auch noch mal an Dominik Maximini.

Sabine: Kannst du dich an einen konkreten Fall erinnern, bei dem wir “vom Hölzchen aufs Stöckchen” gekommen sind?

Björn: Ja, da gibt diese eine Passage aus dem Kontext “Increment”, wo davon gesprochen wird, dass das Sprint Review niemals als Gate gesehen werden sollte, das der Lieferung von Mehrwert im Wege steht. Wir haben über mehrere Dinge diskutiert wie z.B “Schranke” und einige andere mehr. Da jede:r von uns einen entsprechenden Hintergrund hat, waren wir mit “Gate” eigentlich ganz zufrieden und wollten es dann dabei auch belassen. Bis zum letzten Sonntag vor der Veröffentlichung. Da haben wir beim finalen Drüberlesen erneut die Perspektive des Lesers eingenommen, und zwar aus der Perspektive einer Person, die vermutlich sehr neu im Thema ist und beim Begriff “Gate” eher verloren ist. Da ging die Diskussion erneut los und letztendlich haben wir uns auf “Barriere” geeinigt, was eigentlich jede:r verstehen sollte.

Sabine: Ich erinnere mich mit einem Anflug von schlechtem Gewissen, dass ich beim Durchlesen der “finalen” Version (Dominik hatte sie so schön angekündigt mit “an Increment is born”) noch 24 Kommentare hatte, zum großen Teil zum Glück nur Kommafehler und dergleichen. An dem Beispiel mit dem “Gate” sieht man sehr schön, dass wir uns mit Details beschäftigt haben, die einem beim Überfliegen des Scrum Guides gar nicht auffallen. Aber wenn man Wort für Wort übersetzt, muss man sich eben mit diesen Details beschäftigen. Ich hatte ehrlich gesagt am Anfang gedacht, dass die Übersetzung viel schneller gehen würde. Einmal durchs Deepl jagen, und gut ist. Für mich war erstaunlich, wie viele Kommentare in unserem Review-Prozess von den anderen kamen an Stellen, wo ich gar nicht damit gerechnet hatte. Insofern hat der Review-Prozess zwar etwas gedauert, dafür die Qualität aber auch deutlich erhöht.

Björn: Stimmt :). Was mir ebenfalls im Kontext unserer Working Agreements in Erinnerung geblieben ist: wir hatten beim ersten Treffen gesagt, dass man immer zu zweit an einem Thema arbeiten sollte (eine:r übersetzt, eine:r geht noch mal drüber). Und es gab gefühlt feste Paare. Die Paare und das Vorgehen hatte nicht einmal eine Woche Bestand und wir haben uns eher da unterstützt, wo grad’ Unterstützung benötigt wurde. Für mich auch ein schönes Bespiel im Kontext “Zusammenarbeit über Vertragsverhandlungen” und “Individuen & Interaktionen über Prozesse & Werkzeuge”.

Sabine: Absolut, das war Selbstorganisation (oder besser: Selbstmanagement) in Aktion. Ziel war es ja, dass jeder Text von mindestens einer weiteren Person inhaltlich gegengelesen werden sollte und dass nur die dann noch bestehenden Fragen und Unstimmigkeiten bei den Sonntags-Nachmittags-Terminen geklärt werden sollten, um Zeit zu sparen. Das haben wir im Großen und Ganzen auch gut hinbekommen. 

Peter: Ich habe die große Gruppe von 11 Personen als sehr aufgeschlossen und – natürlich – diskussionsfreudig in Erinnerung. Wir haben uns dabei aber im Grundsatz stets darauf geeinigt, den:die Leser:in möglichst nah an die Bedeutung des englischen Originals heranzuführen. 

Sabine: Ah, Peter, ich stelle entzückt fest, dass dir das “Gendern” in Fleisch und Blut übergegangen ist. Das war ja eine der Neuerungen und sicher für einige für uns (auch für mich!) am Anfang sehr ungewohnt.

Peter: Oh ja, Sabine, das war für mich ein sehr spannendes Lernerlebnis und ich beobachte seitdem auch neugierig alle Reaktionen darauf.

Sabine: Welche Reaktionen hast du denn bisher bekommen?

Peter: Zunächst einmal das positive ‘Feedback’, es überhaupt versucht zu haben und natürlich auch solche Aussagen wie ’Der:Die Scrum Master:in geht doch gar nicht!’. So richtig spannend fand ich dann die ‘Hörbuchfassung’, die den Aspekt der gendergerechten Sprache aufgegriffen und so variiert hat, dass von Thema zu Thema abwechselnd die männliche und die weibliche Variante eingesprochen wurde. 

Eva: Für mich war die Zusammenarbeit mit Kolleg:innen von Scrum.org sehr angenehm und ich habe mich besonders gefreut, dass die Übersetzung des Scrum Guides 2020 total im Zentrum stand. Dominik Maximini hat einen super Job gemacht als Product Owner. Er blieb auch in hitzigen Diskussionen ruhig. Pareto war auch in dieser Zusammenarbeit sehr gut zu merken. Der Text war sehr schnell übersetzt. Die Diskussionen in einer doch eher grösseren Gruppe waren dann schon recht intensiv.

Sabine: Ja, ich fand auch toll, dass wir uns alle diesem gemeinsamen Ziel verschrieben haben, möglichst bald eine solide Übersetzung zu liefern und dafür unsere Sonntag Nachmittage “geopfert” haben. Apropos hitzige Diskussionen: ich erinnere mich noch daran, wie leidenschaftlich wir darüber diskutiert haben, was der Plural von “Increment” ist. Increments? Oder Incremente? Eine Regel, die wir uns gegeben hatten, sagte: Kernbegriffe beibehalten. Eine andere: deutsche Grammatik verwenden. Bei dem Beispiel waren wir im Konflikt, und die “Increments” haben die Kampfabstimmung gewonnen.

Eva: Ja, unsere Regeln… hier haben wir uns geoutet, dass iteratives Arbeiten für uns nicht neu war. Da kommt mir noch die Regel in den Sinn, dass wir englische Begriffe, die im Duden erwähnt werden, in Englisch belassen. Da habe ich echt gestaunt, was es alles im Duden gibt: tough, Courage, … Diese Regel haben wir dann bald wieder über Bord geworfen.

Sabine: Was ja schon mehrfach auch von unserem “Publikum” hervorgehoben wurde, ist das Glossar und die Regeln, die wir uns für die Übersetzung gegeben haben und die nun am Ende der deutschen Übersetzung zu finden ist. Ich finde das sehr nützlich und auch für andere deutsche Texte verwendbar. Mich stört es immer, wenn ich sehe, dass in einem einzigen Text keine einheitlichen Rechtschreibregeln verwendet werden. Beispiel ist das Setzen von Bindestrichen und auch die Groß- und Kleinschreibung bei englischen Originalbegriffen. Ich fände cool, wenn unser Glossar auch über die Übersetzung des Guides hinaus Anwendung finden würde. Ich selbst richte mich jedenfalls mittlerweile bei allen Texten danach und muss so nicht immer wieder neu nachdenken über Rechtschreibung.

Eva: Ja, das geht mir auch so. Ich kann Texte viel schneller und entspannter verfassen. Zudem werden sie viel lesbarer, wenn für die gleichen Sachen immer die gleichen Begriffe verwendet werden. 

Sabine: Was mich speziell noch interessieren würde, Eva: du warst ja unsere Vertreterin aus der Schweiz. Gab es irgendwelche Dinge, die im Schweizerischen anders gesagt würden? Wir haben ja – nicht ganz ernst gemeint – darüber nachgedacht, eine schweizerische und auch eine österreichische Version zu verfassen.

Eva: Haha… ja, eine Übersetzung ins Schweizerdeutsche wäre natürlich toll. Das wäre sicher interessant. Welchen Dialekt möchtest Du denn gerne? Wahrscheinlich ist der Grund, dass die offizielle Schriftsprache (neben Französisch, Italienisch und Rätoromanisch) Hochdeutsch ist, da es kein einheitliches Schweizerdeutsch gibt.

Sabine: Gib uns doch mal eine kleine Kostprobe, wie das aussehen könnte!

Eva: Der erste Absatz im Scrum Guide würde z.B. so lauten: “Mir hei Scrum i de früeche 1990-er Jahr entwicklet. Mir hei die erschti Version vom Scrum Guide im Jahr 2010 gschrebe zum de Mönsche uf dr ganze Wäut drbi z’häufe Scrum z’verschtah. Mr hei de Guide sithär dur chlini, funktionali Aktualisierige witerentwicklet. Mir stöi zäme drhinger.” 

Sabine: Hahaha, das finde ich gelungen!

Sabine: Mich interessiert noch eine andere Frage: Welches Feedback habt ihr auf die Übersetzung bekommen?

Björn: Schön, dass Du fragst. Es gab da doch einiges. Und das bezog sich dann doch das ein oder andere Mal auf Veränderungen im Original und nicht auf die Übersetzung. Hier mal ein paar kleine Beispiele:

Das Wort “Commitment” ist im englischen für viele Menschen schwer zu greifen und da hat man sich in der Übersetzung was Eindeutiges erhofft.

Selbst-Management über Selbst-Organisation wird erst klar, wenn man zusätzlich zum reinen Scrum-Guide die Übersicht der Veränderungen liest. Hier sieht man dann sehr gut, wo und wie Ken und Jeff für sich die Unterscheidung machen, losgelöst davon, ob das schon irgendwo anders steht.

Sabine: Ja, mit Selbstmanagement meinen sie: das Scrum Team ist ergebnisverantwortlich (accountable) für das “Was”, “Wer” und “Wie”. Bei der Selbstorganisation war es nur das “Wer” und das “Wie”.

Björn: Und der Punkt, der momentan in der Community wohl am heißesten diskutiert wird: was ist eigentlich so ein “True leader”? So wird der:die Scrum Master:in jetzt bezeichnet, statt wie bisher als “Servant Leader”. Sehr gute Frage. Wir haben hier in der Übersetzung den Begriff der “echten Führungskraft” verwendet. Das war für uns im Übersetzungsteam kein Thema, hat jedoch einiges an negativer Resonanz hervorgerufen, die vermutlich auf eigener, negativer Erfahrung beruht. Den:die “Führer:in” wollten wir nicht verwenden, da das im deutschsprachigen Raum auch nicht unbedingt positiv besetzt ist. Derzeit diskutieren wir, ob wir da nicht den Begriff “Führungsperson” oder “Führungspersönlichkeit” nutzen wollen.

Peter: Ja, Björn, genau daran ist mir beispielsweise aufgefallen, wie viel ‘Bias’ – also vorgefertigte und durch bisherige Erfahrungen geprägte Denkweisen – in verschiedenen Scrum Bubbles vorherrscht. 

In der einen ‘Bubble’ geht Scrum beispielsweise mit Ideen zur Aufbauorganisation einher, und das ‘Team’ mit seinem Selbst-Management und maximaler Unabhängigkeit von der restlichen Organisation steht im Mittelpunkt. Aus dieser Richtung stieß eben diese Übersetzung des ‘true leader’ mit ‘Führungskraft’ auf starke Ablehnung. 

Björn: Habe ich genauso in diversen Diskussionen in lokalen Scrumtischen wahrgenommen, Peter. Eine ähnliche Ablehnung hat auch die im Scrum Guide 2020 neu hinzugekommene Änderung im Kontext Skalierung erfahren: eine gemeinsame Definition of Done, ein:e gemeinsame:r Product Owner:in und gemeinsames Product Backlog im Falle eines Produkts. Eine DoD sei für ein Team da und das sollte bitte auch jedes Team für sich so haben und zwar nur für sich…

Sabine: Der “True Leader” ist auch für mich ein Punkt, über den ich noch einmal nachdenken würde. Bisher der einzige, denn alle anderen Entscheidungen haben wir wohlüberlegt und zum Teil nach einigen Diskussionen getroffen. Für mich wäre es auch eine gute Alternative, wenn wir Leader:in unübersetzt lassen würden (sowohl Leader als auch Leaderin steht im Duden :-)).

Björn: Der letzte Punkt, den ich dann hier anführen möchte, ist die Übersetzung der Begriffe “Accountable” und “Responsible”. Im Deutschen findet man für beides “Verantwortlich”. Aber wofür denn. Ich erinnere mich da an lange Diskussionen im Übersetzungsteam und wir wollten mit “Ergebnisverantwortung” und “Umsetzungsverantwortung” eine Richtung geben. Das war unser Meinung nach besser als bspw. “rechenschaftspflichtig”, wo es eher in Richtung rechtfertigung geht und nicht in Richtung, worum man sich eigentlich kümmert. Letztendlich haben wir für uns beschlossen, möglichst wortgetreu zu übersetzen und nicht sinngemäß.

Sabine: Schön finde ich, dass wir nun als Team gemeinsam hinter dem Ergebnis stehen. Das haben wir uns während des Übersetzungsprozesses ja auch immer wieder untereinander bestätigt. Jede:r ist Kompromisse eingegangen und konnte sich nicht mit allen Lieblingsformulierunge durchsetzen, aber es ging ja um das gemeinsame Ziel und nicht um das Ego.

Sabine: Und schon ist wieder eine Stunde am Sonntagnachmittag vorbei :-). Es hat wieder echt Spaß gemacht mit euch!

Björn: Danke sehr! Tolle Initiative, Sabine. Ich freue mich schon darauf, wieder mit dem ganzen Team zusammenzukommen.

Eva: Ja, Björn, ich mich auch. Danke euch allen! War eine tolle, bereichernde Erfahrung.

Sabine: Einer geht noch: da wir uns ja sehr diszipliniert an den Originaltext gehalten haben, sind meine poetischen Ambitionen nicht befriedigt worden. Daher möchte ich das hier noch nachholen (sehr frei nach Goethe’s Faust):

»The Product Owner« im Guide geschrieben steht
Hier stock ich schon! Ob sowas heut noch geht?
Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen,
Ich muß es anders übersetzen,
Wenn ich vom Geiste recht erleuchtet bin.
Geschrieben steht: die Product OwnerIn.
Bedenke wohl die erste Zeile,
Daß deine Feder sich nicht übereile!
Ist es die Product OwnerIn, liest jede*r das so gern?
Ist’s nicht noch besser mit nem Gender-Stern?
Doch, auch indem ich dieses niederschreibe,
Schon warnt mich was, daß ich dabei nicht bleibe.
Mir hilft der Geist! Jetzt hat’s endlich gefunkt
Und schreibe getrost: Der:die Product Owner:in mit Gender-Doppelpunkt!

Für die interessierten Leser:innen:
Dieses Blog Chat haben wir erstellt, indem wir gemeinsam ein Google-Doc beschrieben haben. Also eine Art dokumentiertes Gespräch (bei dem alle durcheinander reden dürfen). Die Nachbereitung war minimal und bestand im Wesentlichen darin, Komma-Fehler zu korrigieren ;-). Ein interessantes Format, einfach mal ausprobieren!

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